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Willkommen in Ulms dunklen Ecken

„Ich gebe nicht auf, obwohl kaum einer noch Lust darauf hat“.  Wir treffen Fabio in der Stadt und fragen nach einem Interview. Er sagt: Er müsse gleich zur Arbeit, doch wenn wir eine Schlagzeile haben wollen, dann sollen wir mitkommen. Etwas mulmig ist uns schon, doch nachdem er uns seinen Ausweis gezeigt hat, folgen wir ihm in die Unterführung des neugebauten Komplexes der Sedelhöfe am Bahnhof. Aus Sicherheitsgründen möchte er nicht erkannt werden.  Er, wir nennen ihn hier Fabio,  berichtet uns aus den letzten Wochen seiner Arbeit – und auf einmal dämmert uns, dass er das mit den SCHLAG-Zeilen wortwörtlich gemeint hat: Die Häufigkeit der gewaltsamen Übergriffe, Diebstähle und Nötigungen nehmen auch in Ulm immer mehr zu. Er erzählt, dass er eine Sicherheitskraft ist – und das viele seiner Kollegen gar keine Lust mehr hätten, in der Bahnhofsunterführung die Stellung zu halten.  Jeden Tag kämen hier dutzende Straftaten dort vor. Allein einen Tag vor unserem morgendlichen Gespräch, sei es zu 12 Straftaten gekommen und das allein in einem Zuständigkeitsabschnitt.

„Am Samstag zum Beispiel gegen 17:30 Uhr“, sagt Fabio, „rempelte ein gut trainierter Junge von knapp 1,90, bei dem sich später herausstellte, dass er erst 15 Jahre alt ist, einen 20-Jährigen an. Der 20-Jährige bat den Jungen seine Maske aufzusetzen und erklärte ihm, dass man sich entschuldige, wenn man jemanden beinahe umschubst. Eine simple Bitte um Entschuldigung reichte für den 15-Jährigen aus, um gewaltsam zu werden und führte dazu, dass er den 20-Jährigen packte und gegen ein Regal mit Dosen warf. Das Regal und der Aufsteller fielen durch die Rangelei um und begruben umstehende Personen. Völlig in Rage griffen der 15-Jährige und sein Freund die Bekannten des 20-Jährigen an. Wir Sicherheitskräfte trafen kurz danach ein und beruhigten die Lage.“ Fabio beißt in das Frühstücksbrötchen, das wir ihm mitgebracht haben. Er wedelt mit dem Brötchen herum: „An manchen Tagen kommt man nicht einmal gescheit dazu, etwas zu essen.“ Er erzählt uns, wie alltäglich die Gewalt dort, aus seiner Perspektive, ist: „Um 21 Uhr am selben Abend eskalierte eine Rangelei gruppendynamisch, sodass zuletzt acht Leute an ihr beteiligt waren. Alle alkoholisiert. Der Verursacher lag am Ende hyperventilierend und blutüberströmt am Boden. Kaum einen seiner Freunde kümmerte es. Sie waren vielmehr damit beschäftigt, die eintreffende Polizei anzupöbeln.“ Wir notieren uns die Fakten und verziehen allen Anschein nach das Gesicht, denn Fabio reagiert: „Wenn Sie glauben, dass es den meisten Menschen – so wie Ihnen – den Rücken kalt herunterläuft, wenn Sie so etwas hören, dann möchte ich Ihnen sagen, wobei mir tagtäglich die Haare zu Berge stehen und wobei mir so richtig schlecht wird: Bei keiner der gewaltsamen Auseinandersetzungen gestern ist irgendjemand der umstehenden Passanten eingeschritten. Klar ist das auch unser Job, aber: Es gab viele Zuschauer, und fast jeder von ihnen hatte nur sein Handy gezückt, um Selfies mit der Situation zu schießen. Das macht mir Sorgen.“ Fabio sieht zum Sonnenaufgang und uns beschäftigt die Frage: Wie viel Klicks ist eine Menschenwürde wert? Nach einer Weile verabschieden Fabio und wir uns. Er meint, er werde weiterhin dort in der Unterführung der Sedelhöfe arbeiten: „Ich gebe nicht auf, obwohl oder gerade weil kaum einer noch Lust darauf hat“. Das macht uns nachdenklich.

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