“Die Situation ist pervers.”

„Ich war niedergelassener Arzt in Ulm und bin beruflich in die Schweiz ausgewandert. Der Hauptgrund war: Im deutschen Gesundheitssystem geht es nicht wirklich darum, Patienten zu heilen. Zwar bemühen sich die allermeisten Ärzte redlich, das Beste für die ihnen vertrauenden Menschen zu erreichen. Aber die – ob wissentlich oder unwissentlich – geschaffenen Strukturen stehen einem vernünftigen und effizienten Arbeiten entgegen. Als ich nach meiner Ausbildung im Krankenhaus eine Praxis zur Übernahme suchte, sagte ein alter Kollege lächelnd zu mir: „Meine Praxis liegt im zweiten Stock, ohne Fahrstuhl! Die richtig Kranken schaffen es gar nicht bis zu mir!“ Damals empfand ich das als zynisch und meinem Herzensanliegen – Menschen zu heilen – entgegen gesetzt. Erst mit den Jahren habe ich verstanden, warum sich der Kollege so äußerte: Wer sich für seine PatientInnen engagiert, braucht dafür viel mehr Zeit als er bezahlt bekommt. Alte und Kranke sind für den Allgemeinarzt ein Existenz gefährdendes Risiko. Wer als Arzt zu viele und zu teure Medikamente oder Physiotherapien verschreibt, läuft in Gefahr, noch Jahre später dafür zur Kasse gebeten zu werden. Da kommen schnell zig zehntausende Euro zusammen, die dann nicht mehr zu stemmen sind. 

Dazu kommen unglaublich komplizierte Abrechnungssysteme mit endlosen Ziffernketten und etlichen Ausschlusskriterien. Es ist schlichtweg unmöglich, eine fehlerfreie Abrechnung zu erstellen. Die wichtigste der mindestens fünf verschiedenen Gebührenordnungen hat ungefähr 4.000 Seiten, die dazu noch ständig einzeln geändert werden. Kein Mensch in Deutschland überblickt noch das komplexe Machwerk, nicht einmal die Urheber selbst. Ruft man bei der Kassenärztlichen Vereinigung an, um eine Frage zu stellen, kann diese in aller Regel niemand spontan beantworten. Man erhält Stunden oder Tage später einen Rückruf mit der gewünschten Auskunft, die sich letztlich aber keineswegs als richtig und rechtsverbindlich erweisen muss. Die Situation ist pervers. Von diesem unübersichtlichen System profitieren allenfalls irgendwelche Schlauberger, in keiner Weise aber der ehrliche Durchschnittsarzt oder gar ein Patient. Die Patienten finanzieren zwar den ganzen Irrsinn, sie bezahlen mit einer schlechten medizinischen Versorgung, die völlig einseitig auf den Profit der Pharma- und Medizingeräteindustrie ausgerichtet ist und für Menschlichkeit, Einfühlung und Zuwendung keine Kapazitäten mehr übrig lässt, ein zweites Mal.

Meine eigentliche Motivation zum Arztberuf drohte vollständig auf der Strecke zu bleiben. Nachdem auch meine Versuche, die Lage zu verbessern, in einer unsichtbaren Decke organisierter Netzwerke erstickten, blieb mir nur die Konsequenz, diesem kranken System den Rücken zu kehren. Ich arbeite jetzt seit 2017 in der Schweiz, wo für den einzelnen Patienten noch deutlich mehr Zeit zur Verfügung steht. Schwerkranke und Alte sind dort zumindest kein prinzipielles Risiko. Leider geht die Entwicklung aber in die gleiche Richtung wie in Deutschland. Obwohl die Arbeitsbedingungen noch viel humaner sind als in Deutschland, ist es jetzt schon beinahe unmöglich, Praxisnachfolger zu finden.“