„Wir behandeln falsch“
Für Dr. Ingo Schymanski steckt die moderne Medizin in einer Sackgasse: Statt die wahren Ursachen für Krankheiten zu behandeln, werden nur die Symptome bekämpft. Schmerzmittel hier, Tabletten da – doch wirklich gesund wird niemand. In seinem neuen Buch Die Sprache der Seele rechnet er mit einem System ab, das Patienten im Kreislauf der Behandlung gefangen hält, während Pharma- und Gerätefirmen profitieren. Im Interview erklärt Dr. Schymanski, warum die Medizin für ihn versagt – und wie wir aus dem Hamsterrad entkommen.
Das Interview führte Mathias Eigl, Gründer des Ulmer Spickzettels, der ersten Social-Media-Agentur im Schwabenland ULM ME (www.ulm.me) und langjähriger Chefredakteur verschiedener Schülerzeitungen.
Mathias Eigl: Ingo, du hast in deinem neuen Buch stark mit der modernen Medizin abgerechnet. Was läuft da eigentlich schief?
Ingo Schymanski: Es ist ein grundlegender Denkfehler. Die Medizin sieht Symptome als das Problem an. Aber Symptome sind nicht das Problem – sie sind ein Hinweis auf etwas Tieferliegendes. Statt die Ursachen anzugehen, kämpfen wir gegen die Symptome. Es ist, als würde man die Warnlichter im Armaturenbrett überkleben, aber nie nachsehen, was dem Auto fehlt.
Mathias Eigl: Das heißt, wir sagen den Patienten: „Hier ist eine Tablette, und komm morgen wieder“, anstatt sie wirklich zu heilen?
Ingo Schymanski: Genau. Es ist ein Teufelskreis. Ein Patient kommt mit Rückenschmerzen, bekommt Schmerzmittel verschrieben und kommt Wochen später mit denselben oder schlimmeren Beschwerden zurück. Die Gründe für seine Rückenverspannungen werden nicht untersucht und auch niemals angegangen.
Mathias Eigl: Warum passiert das? Ist das Bequemlichkeit oder Unwissen?
Ingo Schymanski: Es liegt am System. Unsere Medizin ist auf Effizienz getrimmt. Ärzte haben oft nicht mehr als zehn Minuten pro Patient. Diese Zeit reicht niemals aus, um Hintergründe zu erforschen. Ärzte bekämpfen Symptome, und oft fehlt ihnen das Bewusstsein und die Ausbildung, um psychosoziale Zusammenhänge zu erkennen. Am Ende sind beide Seiten frustriert. Unser System macht die Patienten nicht gesund, aber die Ärzte oft genug krank.
Mathias Eigl: Es klingt fast so, als sei das System gar nicht darauf ausgelegt, echte Heilung zu erreichen.
Ingo Schymanski: Leider ja. Unser Gesundheitssystem ist ein profitgetriebenes Geschäft. Jeder Patient, der regelmäßig Medikamente braucht, hält das System am Laufen. Das klingt hart, aber die Pharmaindustrie profitiert davon, dass wir krank bleiben. Wenn alle gesund wären, hätten viele Unternehmen ein Problem.
Mathias Eigl: Aber wir vertrauen doch darauf, dass Ärzte unser Bestes wollen.
Ingo Schymanski: Die meisten Ärzte wollen das auch – aber sie sind Teil des Systems und stecken selbst im Hamsterrad. Sie arbeiten in einer Struktur, die ihnen keine Zeit gibt, nach den Ursachen zu suchen. Es gibt kaum finanzielle Anreize für präventive Arbeit oder längere Gespräche. Geld fließt für teure Untersuchungen und Medikamente. Und auch die Patienten spielen mit: Sie erwarten eine schnelle Lösung, eine Pille, ein Wundermittel. Doch so funktioniert der Organismus nicht. Der Körper sendet oft Symptome als Hilferuf für Lebensumstände, die nicht mehr passen.
Mathias Eigl: Also halten wir das Hamsterrad alle gemeinsam am Laufen?
Ingo Schymanski: Absolut. Viele Menschen haben sich so sehr an das System gewöhnt, dass sie es gar nicht mehr hinterfragen. Sie schlucken Tabletten gegen Kopfschmerzen, anstatt sich zu fragen, was ihnen eigentlich Kopfzerbrechen bereitet. Sie wollen funktionieren, weitermachen wie bisher. Doch je länger wir die eigentlichen Ursachen ignorieren, desto vielfältiger und heftiger werden die Symptome. Am Ende steht oft ein Zusammenbruch im Burnout, eine schwere Depression oder eine organische Erkrankung.
Mathias Eigl: Und das System stützt das Ganze?
Ingo Schymanski: Ja. Es fließt viel Geld in apparative Untersuchungen, Medikamente und Operationen. Für Gespräche und Ursachenforschung außerhalb dessen, was sich in Laborwerten oder bildgebenden Verfahren wie CTs oder MRTs nachweisen lässt, werden kaum Mittel bereitgestellt. Wenn sich ein Arzt Zeit nimmt, psychosoziale Ursachen herauszufinden, tut er das oft aus Idealismus – wirtschaftlich ist es ein Zuschussgeschäft.
Mathias Eigl: Aber was ist die Lösung? Einfach den Schmerz aushalten?
Ingo Schymanski: Nein, es geht darum, zu verstehen, warum der Schmerz überhaupt auftritt. Wenn jemand immer wieder Rückenschmerzen hat, kann man ihm Schmerzmittel geben – aber ohne herauszufinden, was die Verspannungen verursacht, wird das Problem nie verschwinden. Hier finden sich oft Ansatzpunkte für nachhaltige Gesundheit: Probleme am Arbeitsplatz, familiäre Konflikte, falsche Erwartungen, finanzielle Sorgen, ungesunde Gewohnheiten. Doch das ist in unserem System kaum vorgesehen.
Mathias Eigl: Und wie könnte man das ändern?
Ingo Schymanski: Es braucht ein radikales Umdenken. Patienten müssen verstehen, dass ihre Gesundheit nicht nur von einer Pille abhängt. Sie müssen Verantwortung für ihren Lebensstil übernehmen und sich fragen, was ihr Körper ihnen sagen will. Ärzte wiederum brauchen die Möglichkeit, sich wirklich mit ihren Patienten auseinanderzusetzen, ohne den Druck, jeden Patienten in zehn Minuten abfertigen zu müssen. Eine völlige Umorientierung unseres Gesundheitssystems ist nötig.
Mathias Eigl: Klingt, als wären wir noch weit entfernt von dieser Veränderung.
Ingo Schymanski: Leider ja. Vor allem stehen einem Wandel massive finanzielle Interessen im Weg. Aber nichts ist unmöglich. Bis dahin bleibt es jedem selbst überlassen, nachhaltige Gesundheit anzustreben und bloße Symptomunterdrückung zu vermeiden. Die moderne Medizin verfügt über ein riesiges Wissen und fantastische Möglichkeiten – doch werden diese oft zu früh und zu massiv eingesetzt. Funktionelle Störungen gehören in ihren psychosozialen Ursachen verstanden und aufgelöst. Die Schulmedizin sollte sich auf organisch bedingte Krankheiten konzentrieren und der Psychosomatik endlich den Stellenwert beimessen, den sie verdient.
Mathias Eigl: Vielen Dank für dieses Gespräch!