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Früher Überlebenskünstler, heute „Problemkinder“?

Warum unsere Gesellschaft ein Problem mit andersdenkenden Menschen hat – und wie sie darunter leiden.

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Katja Nusser kennt das Gefühl, nicht dazuzugehören. Schon als Kind fiel sie auf. Sie war langsamer, dachte anders, war nicht so „funktional“ wie andere. Heute ist sie Ergotherapeutin, Lerntherapeutin und ADHS-Elterntrainerin. Sie sagt: „ADHS ist für mich keine Krankheit. Es ist ein anderer Hirnstoffwechsel. Ein evolutionärer Vorteil, der in der modernen Gesellschaft zum Nachteil wird.“

„ADHS war früher ein Vorteil“

Früher waren ADHSler die Jäger. Die Krieger. Die, die oben auf dem Baum saßen und Gefahren früh erkannten. Heute gelten sie als Störfaktor, als „krank“. Katja Nusser sieht das anders: „Es ist nicht das Kind, das falsch ist. In der heutigen Gesellschaft braucht man diese Fähigkeiten nicht mehr.“

Kinder mit ADHS haben oft kreative Ideen, ein großes Einfühlungsvermögen, sind hochsensibel. Doch das Bildungssystem verlangt Stillsein, Gehorsam, Struktur – Eigenschaften, die ADHS-Kinder oft nicht mitbringen. Die Folge: Sie scheitern. Nicht, weil sie nicht intelligent sind, sondern weil sie nicht in das System passen.

Von der „Problemkind“-Schublade in die Depression

Nusser selbst hat es erlebt. In der Schule hatte sie Schwierigkeiten. Der Unterricht war eine Qual. „Ich dachte, ich bin einfach nicht schlau genug“, sagt sie heute. Dass sie eine andere Art zu denken hat, verstand sie erst später.

„Viele Erwachsene mit ADHS haben jahrzehntelang das Gefühl, nicht gut genug zu sein“, erklärt Nusser. Viele entwickeln Depressionen. Oder sie werden als depressiv diagnostiziert, weil niemand an ADHS denkt. „Früher hat man gesagt: ADHS ist eine Kinderkrankheit. Das verwächst sich. Das stimmt nicht.“

Die Gesellschaft ist das Problem

ADHSler funktionieren anders. Sie brauchen Abwechslung, immer wieder neue Impulse und Bewegung. Sie sind oft Scanner-Persönlichkeiten – Menschen, die schnell neue Interessen entwickeln, aber nicht immer zu Ende bringen. „Sie sind Ideengeber, keine Verwalter“, sagt Nusser. „Doch unsere Gesellschaft verlangt Struktur, Perfektion, Konsequenz – Dinge, die ADHSler oft nicht können.“

Statt die Stärken dieser Menschen zu fördern, werden sie aussortiert. In der Schule. Im Beruf. „Ein ADHS-Kind wird eher gemaßregelt als gefördert“, sagt Nusser. „Dabei gibt es einfache Wege, ihnen zu helfen.“

Kinder brauchen andere Methoden

In ihrer Praxis in Ulm arbeitet sie mit Kindern, die Probleme in der Schule haben. Viele haben eine Lese-Rechtschreib-Schwäche oder kämpfen mit Mathe. Nusser gestaltet den Unterricht spielerisch, mit Bewegung und Motivation. „Kinder lernen am besten, wenn sie Spaß haben“, sagt sie. Doch genau das fehle im Schulsystem.

Auch die Eltern brauchen Hilfe. „Sie müssen verstehen, dass ihr Kind nicht faul oder dumm ist“, erklärt Nusser. Sie gibt Strategien an die Hand, um den Alltag zu erleichtern – Belohnungssysteme, Strukturhilfen, kleine Tricks, um das Lernen und Leben spaßiger zu gestalten.

Therapieplätze: Fehlanzeige

Ein großes Problem: Therapieplätze sind Mangelware. Eltern stehen monatelang auf Wartelisten. „Ich bin für viele eine Brücke, bis sie Hilfe bekommen“, sagt Nusser. „Und manchmal reicht es schon, die richtige Herangehensweise zu finden. ADHS-Kinder brauchen keine Heilung. Sie brauchen ein System, das sie akzeptiert.“

Ihr Wunsch für die Zukunft: ein Bildungssystem, das Kinder so fördert, wie sie sind. Ein Arbeitsmarkt, der ihre Stärken nutzt. Und eine Gesellschaft, die Vielfalt nicht als Problem sieht, sondern als Bereicherung.

Kontakt:
Katja Nusser, Praxis für Lerntherapie & ADHS-Coaching, Ulm.
Instagram: @katja.nusser.adhs
Webseite: www.adhs-ulm.de

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