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Podcast: Auf ein Schlauchboot passt kein Plan B

2015 wagte Amer Alabdallah das Unvorstellbare: Er verließ Syrien, floh vor Verfolgung und Krieg. Mit seinem Bruder bestieg er ein völlig überladenes Schlauchboot, zahlte 1.300 Euro an Schlepper – und hoffte. Beim ersten Versuch versagte der Motor, beim zweiten erreichte er die griechische Küste. Der Weg nach Europa führte ihn durch Mazedonien, Serbien und Ungarn, oft zu Fuß, immer auf der Flucht. Heute lebt Amer in Ulm, wo er nicht nur ein neues Leben aufgebaut hat, sondern sich für Menschlichkeit und Integration einsetzt – mit derselben Entschlossenheit, die ihn über das Mittelmeer trug.

Interview Bild

Das Interview führte Mathias Eigl, Gründer des Ulmer Spickzettels und der ersten Social-Media-Agentur im Schwabenland ULM ME (www.ulm.me) und langjähriger Chefredakteur verschiedener Schülerzeitungen.




Mathias Eigl: Amer, wenn du an Ulm denkst, was fühlst du?

Amer Alabdallah: Heimat. Ulm ist nicht nur irgendeine Stadt für mich. Es ist der Ort, an dem ich mich zum ersten Mal seit meiner Flucht sicher gefühlt habe.

Mathias: Deine Geschichte beginnt weit weg von hier, in Syrien. Kannst du uns zurück zu den Anfängen nehmen?

Amer: 2011 war ich Teil der Protestbewegung gegen das Al-Assad-Regime in Syrien. Wir wollten Veränderung, Freiheit. Es war mutig, ja, aber auch gefährlich. Freunde von mir haben das mit ihrem Leben bezahlt. Irgendwann war klar, ich musste gehen.

Mathias: Und dann kam die Flucht.

Amer: Genau. 2015 bin ich den gleichen Weg gegangen wie viele andere: Mit einem überfüllten Schlauchboot über das Mittelmeer nach Griechenland. Der erste Versuch scheiterte – 60 Menschen, der Motor ging mitten auf dem Meer kaputt. Beim zweiten Mal habe ich es geschafft. Danach ging es durch Mazedonien, Serbien, Ungarn, bis ich schließlich mit meinem kleinen Bruder in Salzburg ankam.

Mathias: Das klingt wie ein Albtraum.

Amer: Es war hart. Die Schreie der Kinder, das Weinen der Frauen – diese Bilder werde ich nie vergessen. Aber ich wusste, ich musste weitermachen.

Mathias: Und das hast du. Du bist jetzt in Ulm fest verwurzelt. Wie ging es weiter, als du hier angekommen bist?

Amer: Ich wollte nicht warten. Das war mir klar. Ich habe mich bei einem Sozialarbeiter gemeldet und angeboten, beim Dolmetschen zu helfen. Dadurch kam ich in Kontakt mit dem Verein Menschlichkeit Ulm e.V., und das hat mein Leben verändert.

Mathias: Der Verein hat dir viel bedeutet.

Amer: Absolut. Ich habe mich dort engagiert, Sprachkurse organisiert, Deutsch gelernt – sogar ein bisschen Schwäbisch. (lacht)

Mathias: Und dann hast du dich entschieden, wieder zu studieren, diesmal etwas ganz anderes als Chemie.

Amer: Ja, ich habe gemerkt, dass mein Herz für den sozialen Bereich schlägt. Also habe ich an der Uni Stuttgart Sozialwissenschaften studiert. Es war ein harter Übergang, aber ich bereue nichts.

Mathias: Warum Ulm? Warum nicht Stuttgart?

Amer: Ulm hat etwas Besonderes. Es ist groß genug, um lebendig zu sein, aber klein genug, um sich heimisch zu fühlen. Es gibt 138 Nationalitäten hier – das ist einzigartig.

Mathias: Und jetzt? Was machst du aktuell?

Amer: Ich arbeite bei einem Projekt der Dualen Hochschule Baden-Württemberg, das heißt FIRE-Netzwerk. Es vernetzt Wissenschaftlerinnen aus Deutschland und Afrika. Es ist inspirierend, Teil davon zu sein.

Mathias: Du hast also deinen Platz gefunden. Aber wenn du an die Zukunft denkst – was wünschst du dir?

Amer: Frieden. Auf internationaler Ebene, aber auch hier in Deutschland. Es macht mich traurig zu sehen, wie der Rechtsextremismus wächst. Wir müssen Menschen erreichen, besonders die jungen. Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit.

Mathias: Was würdest du jungen AfD-Wählern sagen, wenn sie hier wären?

Amer: Redet mit euren Großeltern. Lernt aus der Geschichte. Eure Stimme hat Gewicht, und ihr gestaltet nicht nur eure eigene Zukunft, sondern auch die der nächsten Generationen.

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